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Studie: 15-Minuten-Stadt „keine Universallösung“ – Deutschland aber nah dran

Binnen kürzester Zeit alles Wichtige des täglichen Lebens erreichen? Für den italienischen Prof. Vittorio Loreto basiert die Planung einer 15-Minuten-Stadt auf falschen Wertvorstellungen.

Quelle: Tim Sumpf, Epochtimes, 28. Sept. 2024

Ärzte, Apotheken, Behörden oder Schulen: In einer 15-Minuten-Stadt sollen wichtige Einrichtungen des täglichen Lebens innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sein.

Dieses moderne Konzept gewinnt in den letzten Jahren bei Stadtplanern immer mehr an Beliebtheit. Nach den Vorstellungen von Architekten und Politikern würde diese neue Stadtform einige Lösungen für drängende Probleme bieten, etwa in den Bereichen Verkehr, Umweltverschmutzung oder Lebensqualität. Doch sorgt dieses Konzept wirklich für eine bessere Lebensqualität der Stadtbewohner? Und wie nah sind wir dieser „Idealstadt“ bereits?

Forscher um Vittorio Loreto, Physikprofessor der Universität Sapienza in Rom und Leiter bei Sony Computer Science Laboratories in Rom, haben jüngst quantifiziert, wie nah Städte weltweit dem Konzept der 15-Minuten-Stadt bereits gekommen sind.

Optisch verdeutlicht haben sie dies durch die Erstellung einer frei zugänglichen Weltkarte, wo jeder Mensch die Städte der Welt erkunden und in Bezug auf Erreichbarkeit der wichtigsten Einrichtungen für das tägliche Leben vergleichen kann. Ein Blick auf Deutschland zeigt, dass viele Großstädte bereits eine 15-Minuten-Stadt sind.

Weltweite Städte im Vergleich

Mithilfe dieser Karte hat das Team Städte auf der ganzen Welt bewertet und verglichen. „Unsere Ergebnisse zeigen erhebliche Unterschiede sowohl innerhalb der Städte als auch zwischen verschiedenen Regionen, was diese Erreichbarkeit betrifft. Städtische Gebiete weisen somit ein hohes Maß an Ungleichheit auf“, erklärte Loreto.

15-Minuten-Stadt: Acht Großstädte im Vergleich

Ein Vergleich von acht Metropolen weltweit zeigt, wie unterschiedlich die Erreichbarkeiten sein können. In blauen Bereichen brauchen Menschen weniger als 15 Minuten, in rötlichen mehr als eine Viertelstunde. Foto: Sony Computer Science Laboratories – Rome

Beispielsweise können Gebiete in einer Stadt, wo viele Dienstleistungen angeboten werden, teurer sein. Dies bedeutet, dass sich nur Menschen mit einem entsprechend guten Einkommen einen derartigen Wohnort leisten können.

Im weltweiten Vergleich schneiden viele Städte in Europa in Bezug auf die Erreichbarkeit sehr gut ab. Wien ist ein hervorragendes Beispiel dafür. In den meisten Städten in den USA, in Afrika und in Teilen Asiens hingegen dauert es wesentlich länger, um grundlegende Einrichtungen und Dienstleistungen zu erreichen“, so Loreto.

Europäische Städte weisen vielfach kürzere Wege auf als im Rest der Welt. Foto: ts/Epoch Times nach Sony Computer Science Laboratories – Rome, Leaflet / OpenStreetMap

Innerhalb Europas stechen wiederum die deutschen Städte mit mehrheitlich kurzen, aber nicht den kürzesten Wegen hervor. Europa- und Weltmeister der kurzen Wege ist mit Laufwegen von durchschnittlich 5 Minuten Genf. Foto: ts/Epoch Times nach Sony Computer Science Laboratories – Rome, Leaflet / OpenStreetMap

Deutschland und die 15-Minuten-Stadt

Viele der untersuchten Städte in Deutschland sind bereit 15-Minuten-Städte. Am schnellsten kommen die Einwohner im niedersächsischen Göttingen an ihr Ziel. Sie brauchen im Schnitt 7 Minuten zu Fuß, mit dem Fahrrad drei. Fast dreimal so lang – 20 Minuten zu Fuß beziehungsweise 8 Minuten per Rad – benötigen die Menschen in Passau, Bayern.

Etwa 85 deutsche Städte haben die Forscher genauer untersucht, wobei Göttingen und Passau den zeitlichen Rahmen definieren. Foto: ts/Epoch Times nach Sony Computer Science Laboratories – Rome, Leaflet / OpenStreetMap

In beiden Städten sind die Wege im Stadtzentrum deutlich kürzer als am Stadtrand. Passau „verliert“ den Vergleich jedoch, weil das Zentrum der Donaustadt verhältnismäßig klein ist. Dasselbe Phänomen zeigt sich in praktisch allen untersuchten Städten. Unter anderem in Köln kommt eine weitere Besonderheit hinzu. Die Stadt wird durch den Rhein geteilt. Das zeigt sich auch in den Karten von Loreto und Kollegen.

Obwohl in den Randgebieten viele Wege mehr als 15 Minuten erfordern, lassen sich diese durch den Umstieg auf das Fahrrad deutlich verkürzen. Im Stadtzentrum bringt dieser Schritt indes kaum Zeitersparnisse. Inwieweit Steigungen sowie Rad- oder Fußwege in die Zeiterfassung eingeflossen sind, bleibt ungeklärt.

Der Großteil der Einwohner (unten rechts) Kölns lebt bereits in einer „15-Minuten-Stadt“ (links). An den Stadträndern muss dafür gegebenenfalls auf das Fahrrad (oben rechts) gestiegen werden. Foto: ts/Epoch Times nach Sony Computer Science Laboratories – Rome, Leaflet / OpenStreetMap

Umstrukturieren, mehr Ressourcen oder beides?

Das Forschungsteam beließ es jedoch nicht bei der Erfassung und Darstellung, sondern ging noch einen Schritt weiter: Was wäre, wenn die vorhandenen städtischen Ressourcen und Dienstleistungen umverteilt würden? Wäre es möglich, die Erreichbarkeit zu verbessern? Würde dies zu weniger Ungleichheit in einer Stadt führen? Oder sind dafür mehr Ressourcen erforderlich?

Kurz gesagt: Benötigt ein Stadtviertel beispielsweise einen massiven Ausbau des Verkehrsnetzes, um wichtige Einrichtungen zu erreichen, oder eine gleichmäßigere Verteilung von wichtigen Einrichtungen in der Nähe?

Um diese Fragen zu beantworten, haben die Forscher einen Algorithmus entwickelt. Mit ihm wollten Loreto und seine Kollegen verstehen, ob und wie mehr Menschen einen Zugang zu wichtigen Einrichtungen erhalten konnten, um Ungleichheiten zu verringern. Gleichzeitig untersuchten sie, was mehr angebotene Dienstleistungen brachten, ab wann Städte den 15-Minuten-Rahmen erreichen und wie die Anzahl der dafür benötigten Dienstleistungen zwischen verschiedenen Städten variieren kann.

„Wir stellen erhebliche Unterschiede zwischen den Städten fest, was die Mindestanzahl an zusätzlichen Diensten zur Erfüllung des 15-Minuten-Stadtkonzepts angeht“, sagte Loreto. Und weiter:

Noch interessanter ist die Beobachtung, dass in vielen Fällen das Konzept einer auf Nähe basierenden Stadt gar nicht denkbar ist und ein radikal neues Paradigma entwickelt werden muss.“

Lieber wertorientiert planen statt 15-Minuten-Stadt

Für die Wissenschaftler ist ihre Arbeit enorm wichtig, um die Städte, in denen wir leben, besser zu verstehen und bewohnerfreundlicher zu bauen – eine komplexe Herausforderung für Architekten und Stadtplaner.

Es wird deutlich, dass keine Stadt der anderen gleicht, was bedeutet, dass jede Stadt einzigartige maßgeschneiderte Ansätze für ihre Komplexität erfordert“, so die Forscher.

Zwar biete die 15-Minuten-Stadt prinzipiell einen von vielen Lösungsansätzen für allgegenwärtige Probleme, doch ein Universalmodell sei dies auf keinen Fall. In ihrer Studie kommen die Forscher zu dem Schluss, dass das rein zeitbasierte Ideal einer Stadt nicht ausreicht, um eine lebenswerte Stadt zu schaffen.

„Stattdessen sollten wir damit beginnen, wertorientierte Städte zu schaffen, in denen die lokale Bevölkerungsdichte sowie sozioökonomische und kulturelle Faktoren berücksichtigt werden“, schlagen Loreto und seine Kollegen vor.

Die Forscher bieten ihr Modell allen Stadtplanern, Ingenieuren und politischen Entscheidungsträgern an, um maßgeschneiderte Lösungen für ihre Städte zu entwickeln, anstatt „pauschale Ansätze zu verfolgen“. So sollen Städte für ein breiteres Bevölkerungsspektrum zugänglicher und lebenswerter werden.

Ein Aufbau gerechterer Städte hätte zudem enorme Vorteile: Ein besserer Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung, Kultur, Freizeitangeboten und die vielen Möglichkeiten, die Städte als Zentren menschlicher Kreativität bieten, fördern nicht nur die individuelle Lebensqualität, sondern tragen auch zum sozialen und wirtschaftlichen Wohl bei.

Die Studie erschien am 16. September 2024 im Fachblatt „Nature Cities“.


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